Liner Notes Verfasser: Peter Rüedi, Weltwoche, 46-2015
Das spezifische Gewicht der Lyrik
Zu den verbreiteten Irrtümern die Literatur betreffend gehört, dass Lyrik eine Gattung des Ungefähren sei, der gefühlig verfliessenden Konturen. Das trifft auf die Albumpoesie höherer Töchter von einst zu. Lyrik, die diesen Namen verdient, verlangt einen Dichter im Wortsinn, einen Ver-Dichter. Sie ist, von Walter von der Vogelweide bis Else Lasker-Schüler, eine Kunst der Konzentration, des hohen spezifischen Gewichts, der scharfen Ränder. Harte Arbeit, bis ein Einfall zu klingen zu anfängt. An den Texten der 15 Herbstlieder, die der bislang hauptsächlich als freier Improvisator bekannte Zürcher Musiker Omri Ziegele für die Formation „Billiger Bauer“ schrieb, wurde gewiss nicht monatelang herumgeschliffen. Vielmehr ging er, frei nach Goethe, im Walde so vor sich hin. Dann aber setzte ein Prozess ein, den man im übertragenen Sinn durchaus als musikalische lyrische Arbeit bezeichnen kann: die Texte, zum 15-jährigen Jubiläum des über die Jahre als improvisatorisch-kompositorischer Workshop sich fortentwickelnden Ensembles auf je 15 Wörter konzentriert, sind Anlass für 15 scharf montierte, dichte musikalische Miniaturen zwischen innigen klangmalerischen Herbststücken und ohrenzerfetzenden Eruptionen, ein ungemein vielfarbiger Wirbel von kurzen dichten Piècen für Nonett plus Sängerin (Isa Wiss). Ein im weiteten Sinn suitenartiger Ablauf, der im Sprung von Essenz zu Essenz den hoch besetzten und gemeinhin andere Freiräume gewohnten Improvisatoren einiges an Selbstlosigkeit abverlangt (tatsächlich nicht unähnlich der Praxis von Duke Ellington, der seine Solisten in der Regel an der kurzen Kandare weniger Chorusse hielt): Ziegele selbst am Alto, Jürg Wickihalder an diversen Saxophonen, Nick Gutersohn an der Posaune, Yves Reichmuth an der E-Gitarre, Gabriela Friedli am Piano und die beiden Bässe Jan Schlegel und Herbert Kramis und die zwei Drummer Marco Käppeli und Dieter Ulrich – eine Art who is who der freien Zürcher Impro-Szene - hier über weite Strecken kompositorisch eingebunden, aber nicht domestiziert. Wild und wunderbar. Heftig und zart wie das Leben.