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Mit seinem unverwechselbaren Stil war Miles Davis eine der einflussreichsten, innovativsten und bedeutendsten Schlüsselfiguren im Jazz des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach der Teilnahme an der sogenannten Bebop-Revolution beeinflusste Davis die Entwicklung unterschiedlicher Jazz-Stile wie Cool Jazz, Hard Bop, modalen Jazz und Jazzrock maßgeblich. Sowohl als Instrumentalist als auch durch seine innovativen Fähigkeiten gelang es Miles Davis, seine eigenen künstlerischen Ideen zu verwirklichen und gleichzeitig kommerziell erfolgreich zu sein.
Erste Berühmtheit erlangte er als Bebop-Jazzer und Sideman von Charlie Parker, in dessen Band er 1945 als Ersatz für Dizzy Gillespie eintrat. Davis legte danach konzeptionell immer wieder neue Grundsteine, indem er nicht konservativ auf einem Jazz-Stil beharrte, sondern stets weiter experimentierte. Da er regelmäßig talentierte Musiker, von denen er Innovationen und neue Impulse erwartete, in seine Band holte und ihnen Raum zur Entfaltung gab, verdanken zahlreiche Jazzgrößen ihren Durchbruch als Musiker der Zusammenarbeit mit Davis.
Seit Ende des 20. Jahrhunderts erfahren seine Alben und Kompositionen – heute Klassiker und Meisterwerke des Jazz – große Anerkennung bei Musikkritikern und Jazzfans gleichermaßen. Als besondere Würdigung seines Werks verabschiedete das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten am 15. Dezember 2009 eine symbolische Resolution in Gedenken anlässlich des 50. Jahrestags der Aufnahme seines Albums Kind of Blue zur „Ehrung des Meisterwerks und zur Bekräftigung, dass Jazz ein nationales Kulturgut ist“.
Davis war ein außergewöhnlich produktiver Künstler, der in den 46 Jahren seines Schaffens zwischen 1944 und 1991 über einhundert Alben herausbrachte und auf vielen weiteren als Sideman mitspielte. Miles Davis wird oft als Innovator, teilweise auch als Popularisator, von Musikstilen gesehen, dem mehrere Schaffensperioden wie die Bebop-, die Cool-Jazz- oder die Jazz-Rock-Periode zugeschrieben werden können.
Sein Werdegang wird oft in Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre gesehen, deren Ziele er auch als schwarzer Musiker im amerikanischen Musikbusiness verfolgte. Sein lange in New York lebender und arbeitender italienischer Trompeterkollege Enrico Rava meinte dazu in einem Interview mit Ekkehard Jost:
„Revolutionär war das Verhalten von Miles als schwarzer Musiker. Ich weiß nicht, ob du das mitbekommen hast. Aber auf allen George-Wein-Tourneen reisten die schwarzen Musiker in der zweiten Klasse, während Stan Getz und Dave Brubeck in der ersten Klasse unterwegs waren. Und alles lief in diesem Stil. Und Miles war der erste, der wirklich dagegen anging … Ich meine, was Miles machte, … das war wirklich wichtig und hatte wirklich eine große soziale Bedeutung.“
– Enrico Rava[67]
Sein selbstbewusstes Auftreten in der Öffentlichkeit war vielen Schwarzen damals Vorbild.
Er zog sich Mitte der 1970er Jahre aus dem Musikgeschäft zurück. Nach seiner Rückkehr Anfang der 1980er Jahre experimentierte er mit verschiedenen modernen Musikstilen wie Hip-Hop, Popmusik und Rock. Diese Jahre waren auch seine kommerziell erfolgreichsten.[66] Zum Teil wird seine Schaffenskraft auf die Tatsache zurückgeführt, dass er als junger Musiker feststellen musste, dass der bis dahin erfolgreiche Bebop, sowie der Jazz im Allgemeinen, an Anziehungskraft und Zuhörerschaft an andere Musikrichtungen verlor und er damit die Grundlage für seinen Lebensunterhalt. Dieser Konflikt spornte ihn zu enormen Einfallsreichtum an.
Seine Mitmenschen empfanden ihn als empfindliche, wechselhafte, teils unangenehme Persönlichkeit. Sein Biograph Quincy Troupe beschrieb ihn folgendermaßen:
„Miles Davis war ein sprunghafter Kerl. In der einem Sekunde konnte er sehr charmant sein und es war schön, mit ihm zusammen zu sein, und in der nächsten Sekunde konnte er der gemeinste Kerl sein, der dir jemals über den Weg gelaufen ist […]. Ich habe es mit ihm erlebt.“
– Quincy Troupe[69]
Musikerkollegen wie Thelonious Monk beschimpfte er als Nichtmusiker[70] oder verunglimpfte andere wie Clark Terry, Duke Ellington, Eric Dolphy oder Jaki Byard in Radiointerviews; Prince nannte er eine Mischung aus Jimi Hendrix und Charlie Chaplin. In Konzerten spielte er oft mit dem Rücken zum Publikum, was viele Konzertbesucher als Ablehnung empfanden. Ein Kritiker schrieb dazu: „Er scheint sein Publikum so sehr zu hassen, wie man überhaupt jemanden hassen kann. Warum spielt er dann für uns? Will er nur unser Geld?“[72]
Miles Davis nahm eine Vielzahl von psychoaktiven Substanzen darunter Heroin, Alkohol, Barbiturate und Kokain. Durch die Drogen entwickelte er paranoide Wahnvorstellungen und akustische Halluzinationen. Miles Davis litt auch an Depressionen als Folge der Einnahme von Schmerzmitteln gegen Sichelzellenanämie.
Miles Davis, der Frank Sinatra ein Vorbild für seine Phrasierungstechnik nannte, weist nur wenige Konstanten im Laufe seiner 46 jährigen Musikerkarriere auf.[74] Zu den Konstanten gehört, dass er zeitlebens den Rat seines ersten Lehrers, auf das Vibrato zu verzichten, befolgte. Außerdem spielte er mit einem von Gustav Heim, einem ehemaligen Solotrompeter der St. Louis Choral Symphony Society, entworfenen Heim-Mundstück. Ab 1954 nutzte Davis einen Harmon-Dämpfer mit entferntem Stiel-Einsatz, um die Klangfarbe und die Tonhöhe zu variieren. Der dadurch warme und satte, teilweise zarte Sound seiner Improvisationen, etwa auf Seven Steps to Heaven, wurde zu Davis Markenzeichen.
Laut dem Kritiker Michael James „ist (es) keine Übertreibung, zu sagen, daß niemals zuvor in der Jazzgeschichte das Phänomen der Einsamkeit in so eindringlicher Weise examiniert worden ist wie von Miles Davis“. Später setzte er elektronische Effektgeräte, besonders das Wah-Wah ein.
Während seine Bedeutung als Bandleader unbestritten ist, wurde sein Trompetenstil von manchen Kritikern als beschränkt eingestuft,[70] teilweise wurde auf eklatante technische Mängel hingewiesen. Die meisten Kritiker und Jazzfans ignorierten jedoch die technischen Fehler, sahen darüber hinweg oder sprachen sie nur kurz an.
“As a trumpeter Davis was far from virtuosic, but he made up for his technical limitations by emphasizing his strengths: his ear for ensemble sound, unique phrasing, and a distinctively fragile tone. He started moving away from speedy bop and toward something more introspective. His direction was defined by his collaboration with Gil Evans on the Birth of the Cool sessions in 1949 and early 1950 […].”
„Als Trompeter war Davis weit von musikalischer Meisterschaft entfernt, aber er überspielte seine technische Limitierung durch die Betonung seiner Stärken: sein Ohr für den Sound des Ganzen, eine einzigartige Phrasierung und ein unverwechselbar fragiler Ton. Er bewegte sich weg von schnellem Bop auf etwas mehr nach innen gerichtetes. Seine Richtung wurde durch seine Zusammenarbeit mit Gil Evans in den Birth-of-the-Cool-Sessions 1949 und Anfang 1950 festgelegt […].“ – Jim Macnie
Literatur
Ian Carr: Miles Davis. Eine kritische Biographie. LIT, Baden 1982, ISBN 3-906700-02-X.
Jack Chambers: Milestones 1. The Music and Times of Miles Davis to 1960. Milestones 2. The Music and Times of Miles Davis Since 1960. Beech Tree Books, William Morrow, New York 1983 bzw. 1985 (Bd. 2).
Bill Cole: Miles Davis. A Musical Biography. William Morrow & Company, New York 1974.
Miles Davis, Quincy Troupe: Miles Davis. Die Autobiographie. Heyne, München 2000, ISBN 3-453-17177-2.
Ashley Kahn: Kind of blue. Die Entstehung eines Meisterwerks. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 2002, ISBN 3-8077-0176-1.
Franz Kerschbaumer: Miles Davis. Stilkritische Untersuchungen zur musikalischen Entwicklung seines Personalstils. Akademische Druck- und Verlags-Anstalt, Graz 1978, ISBN 3-201-01071-5.
Jörg Konrad: Miles Davis. Die Geschichte seiner Musik. Bärenreiter Verlag, Kassel 2009, ISBN 978-3-7618-1818-3.
Tobias Lehmkuhl: Coolness. Über Miles Davis. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Berlin 2009, ISBN 978-3-8077-1048-8.
Jan Lohmann: The Sound of Miles Davis. The discography. 1945–1991. JazzMedia ApS, Kopenhagen 1992, ISBN 87-88043-12-6.
Eric Nisenson: ’Round About Midnight. Ein Porträt von Miles Davis. Hannibal, Wien 1985, ISBN 3-85445-021-4.
Eric Nisenson: The Making of Kind of Blue, Miles Davis and His Masterpiece. St. Martin’s Press, New York 2000.
Wolfgang Sandner: Miles Davis. Eine Biographie. Rowohlt, Berlin 2010, ISBN 978-3-87134-677-4.
Paul Tingen: Miles Beyond. The Electric Explorations of Miles Davis, 1967–1991. Billboard Books, New York 2001.
Peter Niklas Wilson: Miles Davis. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten. Oreos, Waakirchen 2001, ISBN 3-923657-62-5.