Suche nach:
86332 / Daten zuletzt bearbeitet von: SJO allgemein
This URL: https://jazzdaten.ch/de/album.php?Album=86332
CD:  Alexander von Schlippenbach — Twelve Tone Tales Vol II
Piano Solo
 
Infobild
Label: Intakt Records
Label-Nummer: CD 116
Aufnahmedatum: 2005
Land: DE
Aufnahmeort: Baden-Baden
Helvetica: Hat Bezug zur Schweiz
Tonträger: CD
Liner Notes Verfasser: Bert Noglik
Genre   
Contemporary Jazz → Avantgarde
Archiv-Objekte
CD-13747
Musiker:
NameLandInstr.
Alexander von SchlippenbachDEp,
Tracks:
Nr.Titel
1-1Twelve Tone Tales III
1-2Bishop
1-3Allegorese
1-4Wildcat's Proper Hit (AKI)
1-5Born Potty
1-6All Jazz Is Free
1-7Twelve Tone Tales IV
1-8Off Your Coat Hassan
1-9Les
1-10Something Sweet, Something Tender
1-11Out There
1-12All The Things You Are
1-13Trinkle Tinkle
 
Drei Tage im Juni
Wie holt man die Ernte eines Lebenswerkes ein in drei Tagen? In der musikalischen Improvisation, die als «work in progress», letztlich als jahrzehntelange Kongruenz von Vita und Werk angelegt ist, scheint solches unmöglich. Und doch gibt es Momentaufnahmen oder Dokumente von Arbeitsphasen, die exemplarisch erscheinen und im Ausschnitt auf das Ganze verweisen. Gewiss, Alexander von Schlippenbachs Klavierspiel ist immer im Kontext seiner anderen Aktivitäten wahrzunehmen – im Zusammenhang mit dem Globe Unity Orchestra, dem Trio mit Evan Parker und Paul Lovens, dem Duo mit Aki Takase oder dem mit Sven-Åke Johansson. Schließlich impliziert auch die mit der Berliner Band Die Enttäuschung aus zeitgenössischer Sicht unternommene Annäherung an Thelonious Monk wesentliche Facetten des Pianisten Alexander von Schlippenbach..Gelang es, das Monk-Projekt auf drei CDs zu dokumentieren (Monk’s Casino, Intakt), so erwies sich eine neue Soloeinspielung als weitaus problematischer. Große Mengen an musikalischem Material hatten sich im Laufe der Jahre angesammelt, waren in extensiven Prozessen des Musizierens er-spielt, ausgebreitet und akkumuliert worden. Noch wichtiger als der quantitative wog der qualitative Aspekt: die gestaltbildende Konzentration, die intellektuelle und emotionale Verknüpfung des Materials sollten sich gegen das Zufällige stellen und dennoch nicht des Spontanen entbehren.
Alexander von Schlippenbach entschied sich für einen strengen formalen Aufbau in Gestalt einer vierteiligen Gliederung. Die jedem dieser Stück-Gruppen vorangestellten Twelve Tone Tales beginnen jeweils mit einer Invention, geschrieben unter den Vorzeichen des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen. Auch die improvisatorischen Fortsetzungen in der Paraphrase und gegebenenfalls die zweite Invention beziehen sich auf die gleiche Zwölftonreihe.
Auf der Ebene des Konzeptionellen wie auch des Technischen erweist sich zunächst einmal als hocherstaunlich, wie es dem Pianisten gelungen ist, Konstruktionsprinzipien der Neuen Musik in den Fluss der Improvisation einzubeziehen, die Struktur in einen Prozess zu verwandeln. Schon Anfang der achtziger Jahre hat er es in einem Interview mit mir so beschrieben: «Beim Üben bilde ich manchmal eine Kette von Zusammenklängen, die von der Zweistimmigkeit über die Dreistimmigkeit – zum Beispiel zwei Finger der linken, ein Finger der rechten Hand – bis hin zu zehnstimmigen Akkorden reicht. Wenn man völlig ungestört arbeiten kann, gelingt es einem, diese Zusammenklänge in einen fortlaufenden Zusammenhang zu bringen, eine Kette von in sich logischen Gliedern aufzubauen. Je mehr Töne zusammenkommen, desto komplizierter wird es natürlich.» Im Fortgang jahrelangen, jahrzehntelangen Übens/Spielens hat Alexander von Schlippenbach die Fähigkeit entwickelt, mit linker und rechter Hand eine Folge von sechstönigen Akkorden im Sinne einer Zwölftonreihe zu entfalten. Solches Material steht ihm mittlerweile – vergleichbar dem sehr viel simpler strukturierten Umgang mit Changes – abrufbereit zur Verfügung, ist bis in die Motorik hinein gespeichert und kann mit höchster geistig-kreativer Konzentration im Spielprozess neu konfiguriert werden.
Wesentlicher als die durchaus spannenden Aspekte des Klaviertechnischen erweisen sich die musikphilosophischen Bezüge zur Neuen Musik, konkret der zur Zweiten Wiener Schule und persönlich der zum Komponisten Bernd Alois Zimmermann, der für Alexander von Schlippenbach zum entscheidenden Vermittler der Moderne und durch dessen eigenes Schaffen zum Inspirator wurde. Die Fakten sind bekannt: Von Schlippenbach hatte Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre u. a. bei Bernd Alois Zimmermann studiert und – als Mitglied des Manfred Schoof Quintetts – bei der Aufführung von Werken Zimmermanns (bei der Oper «Die Soldaten» und bei Hörspielmusiken) mitgewirkt. Umgekehrt ließ sich der Jazzpianist von Zimmermann dazu anregen, Aspekte der Neuen Musik in die Arbeit mit seinen damaligen Jazzgruppen zu integrieren und schließlich 1966 mit dem Globe Unity Orchestra einen neuen Weg des von konventionellen Bindungen befreiten orchestralen Jazz zu manifestieren. Über seine Stimmung in der damaligen Zeit schrieb der Pianist: «Der im Schönberg’schen Sinne unzulässige Terminus ‹Atonalität› war das Zauberwort. Ein wahres Pandämonium neuer Klänge, Formen und Rhythmen hatte sich aufgetan und bot denen, die zufassten und das Glück hatten, Gleichgesinnte zu finden, eine Fülle schöpferischer Möglichkeiten.»
Alexander von Schlippenbach vermag Vorstellungen der Neuen Musik zu assimilieren und dabei auch in gänzlich veränderten Klanglandschaften dem Impetus des Jazz treu zu bleiben. Bernd Alois Zimmermanns Vision von der «Kugelgestalt der Zeit» und einem pluralistisch angelegten Komponieren, das in gewisser Weise die Freiheiten der postseriellen Musik und der durch die Fegefeuer des Free Jazz gegangenen Improvisatoren vorwegnahm, erlaubte einen undogmatischen Umgang mit Prinzipien und Traditionen, was freilich keinen Freibrief für Bedenkenlosigkeit und Nachlässigkeit bedeutet. Mit den Twelve Tone Tales kommt Alexander von Schlippenbach im Stadium der Reife, einen großen Bogen vollendend, zu seinen Ursprüngen im Jazz und zu seinen Initialerlebnissen auf dem Gebiet der Neuen Musik zurück, indem er seinem frühen Mentor Bernd Alois Zimmermann eine Hommage erweist, ohne den großen Monk (und dieser steht hier sinnbildlich für das dem Jazz inhärente Streben nach Innovation) zu vernachlässigen. Die Twelve Tone Tales bedürfen der Konzentration im Einzelnen und auf das Einzelne, aber sie erschließen sich in ihrer Tiefendimension erst im Zusammenhang – innerhalb der Vierergruppen und des Gesamt-Kompositums.
Wie geht ein improvisierender (und komponierender) Musiker mit seinem Lebenswerk um? Ein klassischer Interpret kann sich als Spiegelung seiner selbst beispielsweise mit der Einspielung sämtlicher Beethoven-Sonaten oder des «Wohltemperierten Klaviers» von Bach profilieren. Für den Improvisator gibt es keinen Anfang und kein Ende. Und doch will er Zeugnis ablegen, sein Schaffen der Natur des Flüchtigen entreißen, zur Gestalt komprimieren. Hilft im Jazz der Bezug zur Gruppe und/oder zum Publikum oftmals über die eigenen Zweifel hinweg, so ist der Jazzpianist im Studio der einsamste Arbeiter, den man sich vorstellen kann. Dieser hier, Alexander von Schlippenbach, hat eine Grundidee, ein Blueprint, findet zu einer vierteiligen Gliederung und weiß doch zugleich auch, dass neben der Strenge des wissentlich und willentlich genau Gesetzten der immense Zugewinn an Kreativität erst im Prozess des Improvisierens, ja mitunter sogar im vermeintlichen Selbstlauf unter Ausschaltung bewussten Willens entsteht. Zwischen diesen beiden Polen entfalten sich die Twelve Tone Tales, die beim näheren Hinsehen und -hören bereits im Titel einen kreativen Widerspruch offenbaren: Das Zwölftönige steht im Bewusstsein vieler für die Abstraktion (der Neuen Musik), die Geschichte hingegen für die narrativen Aspekte des Jazz (das Storytelling). Aber auch das gilt nur bei grober Verallgemeinerung. Wie sonst hätte Schönberg so emotional «sprechende» Musik schreiben können? Als er von einem Schüler kritisiert wurde, weil er eine Beethoven-Sonate anders erklärt hatte als in der letzten Unterrichtsstunde, antwortete er: «Ich bin auch heute ein anderer Mensch und habe nicht die Verpflichtung, konsequent zu sein, sondern nur die, lebendig zu bleiben.»
Der Pianist allein im Studio. Das ist der Gegenpol zur Arbeit mit dem Globe Unity Orchestra, aber doch zugleich auch eine orchestrale Herausforderung in Gestalt der Tastatur, der Hämmerchen, der Saiten des Korpus. Alexander von Schlippenbach widersteht der Versuchung, im Innenraum des Flügels zu spielen oder die Saiten zu präparieren. Piano pur. Vorbereitet hat er die Zwölftonkompositionen, ein paar Stückideen, mitgebracht einige dieser genialen Themen von Monk oder Dolphy. Der «Rest» ist die Freiheit des Alleingangs und des Selbstlaufes, motiviert von einem Lebenswerk in Bewegung. Drei Tage im Juni.
«Jazz, ja bitte.» Als es in den achtziger Jahren im Kreise bestimmter Improvisatoren beinahe Mode wurde, sich vom Jazz und seiner Geschichte zu distanzieren, hat Alexander von Schlippenbach beharrlich seine Verbundenheit mit dieser Musik und ihren auch physisch erlebbaren rhythmischen Qualitäten betont. Selbst wenn er sich zuweilen weit von den Basiselementen des Jazz entfernt, so wird er dabei immer noch vom Jazz angetrieben. Und wenn er, wie bei diesen Einspielungen, einen Jazz-Standard reharmo-nisiert, dann kann sich umgekehrt auch dabei etwas von der Beschäftigung mit der Zwölftonmusik spiegeln. Alexander von Schlippenbach geht respektvoll, aber undogmatisch mit Traditionen um, fusioniert deren Elemente nicht auf der Ebene der Oberfläche, sondern weiß, Musik-, Spiel- und Lebenserfahrungen zu verinnerlichen, um sie zu veräußern. Komplex, vielschichtig und mit großer Spielfreude kommt er zum Grund und zum Anstoß zurück: zum Jazz.