Suche nach:
74676 / Daten zuletzt bearbeitet von: SJO allgemein
This URL: https://jazzdaten.ch/de/album.php?Album=74676
CD:  Cecil Taylor — The Willisau Concert
Infobild
Label: Intakt Records
Label-Nummer: CD 072
Aufnahmedatum: 2002
Land: CH
Aufnahmeort: Willisau
Helvetica: Hat Bezug zur Schweiz
extern: Discogs   
Tonträger: CD
Liner Notes Verfasser: Meinrad Buholzer, Bruce Carnevale
Genre   
Contemporary Jazz → Free Jazz
Dokument: Rezension Peter Rüedi anzeigen
Archiv-Objekte
CD-10435-LU
Musiker:
NameLandInstr.
Cecil TaylorUSp,
Tracks:
Nr.Titel
1-1Willisau Concert Part 1
1-2Willisau Concert Part 2
1-3Willisau Concert Part 3
1-4Willisau Concert Part 4
1-5Willisau Concert Part 5
 
Am Anfang setzt Cecil Taylor einen einzelnen Ton, aus dem alle andern fliessen. Man könnte auch von einem Kern sprechen, in dem ­ in nuce ­ das Werk enthalten ist; alles Folgende wäre dann nur noch Kernteilung.
Die markante Eröffnung gewinnt praktisch aus dem Stand heraus in wenigen Tönen Dynamik, Tempo. Und schon sind wir mitten im Taylor¹schen Kosmos. Mit Akkorden, Cluster, Kaskaden, mit Phrasen, Fragmenten, Fetzen, mit Ansätzen, Andeutungen, Anspielungen, mit Aufspaltungen, Verzweigungen, Zitaten; mit Melodiösem und Abstraktem. Mal hingeworfen, mal geradezu behutsam moduliert. Mal blitzschnell, dann wieder langsam, gemächlich. Mal laut und brachial, mal leise und sensitiv. Auch mit rhythmischen Wechseln, die aber alle einem höheren Rhythmus unterworfen sind. Wie auch der divergierende, ausfransende Kosmos letztlich ein Ganzes bildet, kompakt, in sich schlüssig, aber nicht verschlossen, sondern offen ­ hin zur weiteren Entfaltung.
II
Diesen Ur-Ton setzte Cecil Taylor in den Konzertsaal, die Willisauer Festhalle, als dieser sich in der Pause erst wieder langsam füllte. Taylor wollte das Ende der Pause nicht abwarten. Er war nicht mehr zu halten. Für ihn war der Zeitpunkt gekommen, das Spiel zu beginnen. Kairos nennt man diese Art von Zeit, bei der es ­ im Gegensatz zu Chronos, der chronologisch ablaufenden, abstrakten Zeit ­ um den richtigen Zeitpunkt geht. Gut gewählt war der Konzertbeginn in jedem Fall. Das beweist auch diese CD. Taylor setzte den Ton nicht in ein in Andacht erstarrtes Publikum hinein. Und das nicht harrende, sondern sich in den Raum hinein bewegende Publikum gab dem Konzert eine eigene Dynamik. Bewegung ­ das ist ein für Taylor essenzielles Element.
III
Cecil Taylors Konzert in Willisau fand an einem Sonntagnachmittag statt. Am Freitag war er von New York über den Atlantik in die Schweiz geflogen. Kaum hatte er sein Hotelzimmer in Sursee bezogen und sich kurz erfrischt, verlangte er nach einem Piano. In der Mittelschule Sursee fand sich ein Steinway. «Gutes Instrument», so Taylor. Für mindestens zwei Stunden setzte er sich an den Flügel, spielte.
Auch am Samstagmorgen fand man ihn wieder am Steinway. Zweieinhalb Stunden. Am Nachmittag konnten wir ihn von den Tasten weglocken. Taylor interessiert sich leidenschaftlich für Architektur. Wir schauten uns Jean Nouvels neues Kultur- und Kongresszentrum in Luzern an, diese Abfolge von Sälen, Foyers, Terrassen, Echokammern, Treppenhäusern, die immer wieder neue Perspektiven öffnen. Er habe, sagte Taylor, bei diesen französischen Architekten immer den Eindruck, sie würden Raum schaffen, der die Leute hineinziehe, und dass das Gebäude daraus seine Energie gewinne, gleichsam aufgeladen werde. Gleiches tat Taylor am Sonntag in Willisau.
Anschliessend gingen wir essen. Schickes Restaurant, ebenfalls von Nouvel. Taylor beobachtete amüsiert das Publikum. «Interessant», sagte er lachend. «Jene, die Geld haben, und jene, die so tun, die es gerne hätten Š» Obwohl Taylor die Abende nicht ungern in den Morgen hinein ausdehnt, ging er zeitig ins Hotel zurück. Er wolle morgen, Sonntag, früh nach Willisau, zum Üben und zum Soundcheck.
Tatsächlich stand Taylor am Sonntagmorgen um acht Uhr vor dem Konzertflügel in Willisau, einem Bösendorfer Imperial; der ihm nicht nur 88, sondern mit verlängerter Tastatur 97 «Trommeln» für das perkussive Spiel zur Verfügung hält. Er liebte das Instrument. Bearbeitete es rund drei Stunden lang.
IV
Vor Cecil Taylor spielte James Carters New Quintet. Taylor verfolgte das Konzert von der Bühne aus, sichtlich aufgeladen. Am liebsten hätte er gleich nach Carter gespielt. Doch war eine Pause angesagt. Sie dauerte ihm zu lang. Schliesslich war er nicht mehr aufzuhalten. Es drängte, zog ihn an den Bösendorfer. Er wollte loswerden, was er in den letzten Tagen aufgebaut, sich in ihm gestaut hatte. Ohne Prolog, ohne Rezitation ­ dieses Ritual, das er mit den Jahren herausbildete und mit dem er oft die Konzerte eröffnet ­ griff er in die Tasten. Setzte jenen Ur-Ton.
Hier wird Musik existenziell.
Wenn Taylor am Flügel sitzt, gibt es keine Distanz mehr, keine abgeklärte, coole Interpretation. Es ist ein unmittelbarer Kampf. Er ringt seine Klänge der Materie ab, dem Klavier, und verschmilzt praktisch mit ihm. (Er ziehe den Bösendorfer dem Steinway vor, sagte er einmal, weil der Steinway sich wie von selbst spiele, der Bösendorfer dagegen, den müsse er selber spielen.)
«Music has saved my life», sagte er mir am Abend zuvor beim Essen. Wenn man ihn spielen hört, spielen sieht, dann wird das nachvollziehbar. Ein Spiel, das nie verspielt ist. Spiel als Sein.
Selbst in den Bewegungen. Ein Taylor-Konzert ist immer auch ein choreografisches Ereignis. Wie er mit den Fingern über die Tastatur wirbelt, das ist Tanz. Und Tanz ist auch noch, wenn sich Taylor zwischen den Stücken erhebt und, noch halb berauscht, in Trance, sich um den Flügel dreht.
Manche nennen ihn einen Schamanen. Taylor widerspricht nicht. Und besteht auf dem Konzert als Ritual, dem Ritual als Kultur, der Feier der Poesie, der Schönheit des Lebens.
V
Mitunter gleiche Cecil Taylors Spiel einem Naturereignis, schreibt der deutsche Jazzpublizist Bert Noglik. Er habe die Materialschlachten des Free Jazz unbeschadet überstanden und dabei eine unverwechselbare Spielweise entwickelt. «Es gibt keinen Taylor-Stil. Es gibt nur Cecil Taylor.» (Auch hier ein Hinweis auf die Distanzlosigkeit; es geht nicht um Interpretation, sondern um Ausdruck des Seins.)
Es gibt wenige Musiker, die so kompromisslos sind wie Cecil Taylor. Die Durststrecke, die er durchqueren musste, war lang und mühsam. Sie hat Verletzungen hinterlassen, Kränkungen, hat ihn aber auch gestärkt. Seine Musik ist nicht eine nachtragende geworden. Der Reichtum an Klängen, den er uns Mal für Mal vorsetzt, ist voller Vitalität oder ­ um es in seinen Worten zu sagen ­ «Zelebration des Lebens».
Treue zu sich selbst. Kompromisslosigkeit ­ das ist keine Absage an Offenheit, an Wandel. Taylor ist ein Musiker, der gerne zuhört (insbesondere anderen Musikern). Und nicht nur in musikalischer Hinsicht ist für ihn das Leben Prozess, work in progress. Ein Beispiel: Kommt er in eine fremde Stadt, beobachtet er die Leute; wie sie sich kleiden, wie sie reden, wie sie sich bewegen, wie sie durchs Leben gehen.
Diese Neugier bleibt nicht ohne Einfluss auf die Musik.
Wenn seine Musik heute weniger auf Widerstand stösst als in ihren Anfängen, dann liegt das an zwei Bewegungen: Zum einen hat sich Taylor selbst verändert, ist seine Musik milder, gelassener geworden, freilich ohne Anbiederung, ohne Konzessionen, ohne Anpassung; gefällig war Taylor noch nie. Zum andern hat sich auch das Publikum bewegt. Hörgewohnheiten haben sich verändert. Akustische Zumutungen aller Art dringen täglich ans Ohr. Noglik spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich «unser beständig neuen Einflüssen ausgesetztes kulturelles Koordinatensystem» verändert habe. Da kann sich die Schönheit des Taylor¹schen Klanges neu erschliessen.
VI
Nach dem Konzert erholt sich Cecil Taylor hinter der Bühne. Er wirkt gut gelaunt, heiter. Seine Finger setzen das Konzert an einem imaginären Instrument fort. Dazu singt er: da di da ­ da da dum ... Wie er sich fühle? «Oh, very, very Š» Statt weiterer Worte wirft er die Hände in die Luft. Beflügelt. «That¹s the good thing about music: It takes all the things away which are not so nice. So you are free ... till the next time.» Und noch einmal bedankt er sich bei Niklaus Troxler, dem Festivalorganisator: «Thanks again for this wonderful instrument.»