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86250 / Daten zuletzt bearbeitet von: SJO allgemein
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CD:  Zentralquartett — Plie
Infobild
Label: Intakt Records
Label-Nummer: CD037
Aufnahmedatum: 1994
Land: CH
Aufnahmeort: Zürich Radiostudio
Helvetica: Hat Bezug zur Schweiz
Tonträger: CD
Liner Notes Verfasser: Christian Broecking
Genre   
Modern Jazz
Archiv-Objekte
CD-13720
Musiker:
NameLandInstr.
Conrad "Conny" BauerDEtb,
Ulrich "Uli" GumpertDEp,
Ernst-Ludwig "Luten" PetrowskyDEas, cl, fl,
Günter "Baby" SommerDEd, perc,
Tracks:
Nr.Titel
1-1Halb-55
1-2Ode an Marul
1-3Conference at Baby's
1-4Rue Sthrau
1-5Fünf Miniaturen, Index I-V
1-6For ELP
1-7Soul Plexus
1-8Conference Of Lutens
1-9Plié Für Inge
1-10Schmetterling
 
«Plié», damit sei eigentlich so etwas wie ein Knicks, in die Beuge gehen, ein Tanzschritt gemeint. Ballettsprache. Hat auf jeden Fall etwas mit Tanzen zu tun, sagt Sommer. Was Petrowsky sagt, klingt zwar ähnlich, ist aber vielleicht etwas anders gemeint. Basisdemokratisch gebärdet sich das Zentralquartett auch nach 20 Jahren noch. Oder war das früher mal anders? Geschichte. Geschenkt.
Aber nicht vergessen. Höre sich wer die Conference at Lutens an! Das ist er nochmal. Der Sound des Auf-stands, den ehrbare Historiker vielleicht etwas zu schnell zur Tradition hochschrieben. Einer Tradition des Ausstands eher. Des Ausstiegs aus der anderen bestenfalls. Der afrikanisch-amerikanischen, der schwarzen, die mal ganz einfach Jazz hiess. Das hatte man nie gewollt, heisst es heute. Das Zentralquartett swingt. Wollte immer swingen?
Der Sound der Vorstadt und die Kon--ferenzen. Die Urzeit von Synopsis, dem Vorläufer des Zentralquartetts. Proben in Petrowskys Hütte am Berliner Stadtrand, um die Ecke der grosse Flughafen. Landhaus, nennt Gumpert das. Kompositorische Versuche und Diskussionen über Musik, man sass zusammen und konnte stundenlang quasseln.
Früher in den 60ern, als die Voice Of America aus Tanger nachts um eins Jazz in ostdeutsche Stuben sendete. Petrowsky erinnert sich an zweiunddreissig Takte Piepen, swingenden Groove und daran, dass er noch nicht mal nach Osten abhauen konnte. Nicht mal in die polnische Szene abtauchen; Petrowsky hätte das gemacht. Die DDR war jedenfalls sehr weit von der Quelle entfernt.
Deshalb damals diese furchtbare Zickigkeit und diese Wolga-Don-Swing-Klumpen zwischen plumpen Marschrhythmen und E-Musenstimmung.
Vernachlässigungen, Entbehrungen. Punkt. Dann die Eigenständigkeit, die Theoretiker, die Euphorie, die Blähungen und die Bauchschmerzen. Bei den Orthodoxen war der Swing verboten, «Kindergarten!», das sagt sich heute leichter. Aber dabei war man doch auch, oder? Geschichte. Geschenkt.
«Plié» ist auch als Verbeugung, als Rückkehr zu den amerikanischen Wur-zeln gemeint, als Besinnung, als Statement. Sagt Petrowsky. Bauer stimmt irgendwie zu, aber nicht so ganz. Improvisierte Musik, sagt Bauer, und das Zentralquartett, die Viererbande des DDR-Jazz. Basisdemokratie. Auch die Verpflichtung dem Publikum gegenüber, Gedanken freilegen, politisches Denken, Suggestion und Autosuggestion.
Und Peitz, das Fischerdorf bei Cottbus. Open air und Free Jazz, Suff und Peace. Das ganze Zwischen-den-Zeilen-Ding und der Glaube, dass zwischen den Tönen noch mehr sei. Free Jazzer, die so populär wie Rockstars wurden. Die Leute in den grauen Parkas wussten aber eigentlich auch nicht mehr mit der Musik anzufangen als die Bonzen, sagt Petrowsky. Ein Zitat von Uschi Brüning, der einsamen Sängerin.
Halb-5, Bauer mag ungerade Takte, der Trick mit der Spannung funktioniert durch Halbieren. Was sich verändert hat? Telefonnummern. Und dass es mal ein Privileg war, nicht jeden morgen arbeiten zu gehen. Heute hat man das Gefühl, jeder bleibt zuhaus. Bauer erzählt leicht verwundert, dass Halb-5 afrikanisch klingt, das hätten ihm jedenfalls mal Leute nach einem Konzert gesagt. Vor drei Jahren war er mal in Nigeria. Ansonsten hat sich sein Interesse am Reisen mit der Grenzöffnung eigentlich eher gelegt. Aber dass man in New York das Zentralquartett kennt, das hätte er nun wirklich nicht erwartet. Auch in Kanada. Auch in Japan.
Marul heisst ein kleiner Ort in den österreichischen Bergen, vier bis sechs Häuser mit Kirche aber ohne Durchfahrtstrasse. Seine Oase, sagt Sommer, zum Skifahren, Komponie-ren, Relaxen; der Sommer, der früher für die Hit Pieces zuständig war. Vor vier Jahren machte er sich auf die grosse Reise, wollte eigentlich nach Italien und blieb in Konstanz hängen. Am Bodensee probte die Bande für diese Aufnahmen, Conference at Baby’s. Und Plié für Inge, die Tänzerin, die auch dort lebt.
Das Bluesige kommt von Gumpert, sagt Bauer. Der war schon immer ‘n Fan von Blue Note-Platten. Altersweisheit, sagt Sommer. Innerer Drang, sagt Petrowsky. For ELP. Gumperts Geburtstagsständchen für Lutens 60sten. Irgendwas ging damals schief. Die Markowitz-Bluesband und Uschis Gesang, die grosse Tradition der Adderley-Brüder allein für Luten, alias Petrowsky.
Markowitz, der schnoddrige TV-Bulle, der trunken in den ehemaligen Zonen des Nachmauer-Berlins fahndet. Der im ganzen privaten Dreck wühlt und auf die Mattscheibe faltet, dass Geschichte Spuren hinterlässt. Narben, die sich eingruben. Wie 32 Takte Piepsen. Lamprechts Rolle und Gumperts Musik. Laut Drehbuch schreibt sich Markowitz, wie man es spricht.
Altersweisheit, sagt Sommer. Nicht immer nur allein für die Hit Pieces zuständig sein! Fünf Miniaturen. Die Bande klingt wie ein grosses Orchester mit mehreren Kontrabäs-sen. Das Geheimnis des riesigen Klangs wird nicht preisgegeben. Zwei grosse Trommeln, unbequeme Lagen, das Alto im Tenorbereich: Materialforschung. Die Miniaturen sind am deutlichsten wiederholbar, erläutert der Komponist. Hier entwickelt sich nichts zu irgendetwas, alles dreht sich um den klaren Umgang mit zugeordnetem Material. «Linear» fällt als Stichwort und «Partitur» auch.
Rue Sthrau, eine kleine Strasse und ein kleines Hotel im Südosten der Seinemetropole. Dort wohnen viele Ausländer. Dort steigt das Zentral-quartett ab. Die Gegend hat wirklich was, sagt Gumpert.
Come Together und funky Riffs. Solus? Nee, Soul Plexus, Soul wie Seele. Blueslastiges Theater, meint Petrowsky dazu.
Und Schmetterling. Erinnert Bauer an seine Tanzmusikzeit in den 60er Jahren. Hat nicht mit ‘nem Falter zu tun, eher mit schmettern, wie ‘ne Trompete eben. Wortspiel.
Vieles wurde damals übertrieben. Die Volksliedmaterialen waren als Sticker mal sehr erfolgreich. Mehr einst ‘ne Sache von Gumperts Workshop Band, aben eben auch fürs Zentralquartett. DDR-Folk und der ganz eigene Jazz? Nee, so war das doch gar nie gemeint, sagt Gumpert, ausgerechnet. Doch, die Liedchen und der Free Jazz, das war das Zentralquartett, sagt Bauer.
Exotenbonus? Hinter der West-Fassade sieht Petrowsky mafiose Strukturen bröckeln. Was tun mit den grossen Namen? Man spannt sie einzeln vor die Karren anderer, verheizt sie für irgendwelche Old School-New School Bluff oder sonstige zwielichtige Festivalgeschäfte. Zehnmal spielt das Zentralquartett heute etwa pro Jahr. Jeder hat eigene Projekte. Jeder hält sich über Wasser, irgendwie. «Die wichtigsten Geschichten liefen, als es noch die DDR gab und wir reisen durften», sagt Gumpert. In den 80ern, in Island: der Thrill, die Kicks. Und was blieb von der Tradition, was kam danach? Persönlicher Stil und Haltung. Underdogstatus, Billigga-gen, Privatquartiere und Manager-blues, Fax, Computer und Subven-tionsdschungel, der ganz normale Alltag irgendwie. Ein fieses kleines Welcome to the World of Jazz. Ernüchterung. Der Exotenbonus hatte nichts mit der Musik zu tun.
Vor zwanzig Jahren begannen sie als konsequente Improvisationsgruppe, erinnert sich Bauer. Altersweisheit, sagt Sommer. Nicht mehr so unerbittlich frei, nicht mehr so verbissen. Basisdemokratie. Möglicherweise «Plié» vor der Jazztradition, im Sinne von Leichtigkeit, sagt Gumpert. Der die DDR-Spezifik nie so recht entdecken konnte, aber wohl weiss, dass die Musik die grösste Hure ist: die kann man halt zu allem verwenden.
Dem grossen Synopsis-Aufstand folgte einst das Formempfinden, dem Zentralquartett-Ost folgte das Zentral-quartett-Wende. Das Zentralquartett-Heute klingt irgendwie befreit. Und das nicht nur, weil die Herren älter geworden, die Systeme begraben und mit ihnen die grossen Theorien. Ob sich das Gesellschaftliche in der Musik niederschlägt? Well, da sind die vier Basisdemokraten verschiedener Ansicht. Ob sich die Musik verändert hat?